Frauenhände: Hilfe bei häuslicher Gewalt mit myProtectify
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Hilfe bei häuslicher Gewalt: Start-up myProtectify bietet digitale Unterstützung für Betroffene

Sogol Kordi gründete myProtectify – ein gemeinnütziges Impact Start-up, das Betroffenen von häuslicher Gewalt in Form des KI-Hilfe-Chats Maya unterstützt. Niedrigschwellig, anonym, verständlich und mit verlässlichen Informationen.

Ihre Geschichte bedrückt und macht gleichzeitig Hoffnung: Sogol Kordi erlebte häusliche Gewalt. Aus ihren Erfahrungen wuchs das Bedürfnis, anderen Frauen, die ähnliches erlebt haben, zu helfen. Sie gründete myProtectify. Im Interview erzählt sie uns, von ihren persönlichen Erfahrungen und der Mission ihres Start-ups.

Was war der Moment, in dem dir klar wurde: Ich muss aus meiner persönlichen Erfahrung heraus ein eigenes Startup gründen?

Diesen Moment hatte ich Anfang 2023, als ich in meine erste eigene Einzimmerwohnung gezogen bin. Ich saß dort auf dem Boden ohne Möbel, ohne irgendetwas und in meinem Kopf war diese Stimme: Sogol, du hast überlebt. Mach etwas daraus. Geh mit deiner Geschichte an die Öffentlichkeit.

Wenige Monate später habe ich genau das getan. Am 16. Juni 2023 – nur zwei Wochen nach meinem Geburtstag, an dem ich mitten auf der Straße von meinem Ex-Partner angegriffen wurde – stand ich auf einer Bühne. Mein erster Satz war: “Hi, ich bin Sogol, ich bin die Gründerin von myProtectify, und ich wurde vier Jahre lang in meiner Beziehung von meinem gewalttätigen Ex-Partner geschlagen. Genau deshalb stehe ich heute hier.” In diesem Moment war mir klar, das ist der Start von etwas ganz Großem!

Welche Rolle spielt deine eigene Geschichte in deiner Arbeit mit myProtectify – und wie schaffst du die Balance zwischen persönlicher Betroffenheit und professioneller Distanz?

Meine persönliche Geschichte ist super wichtig für myProtectify. Ich habe das Ganze wirklich aus der Sicht einer Betroffenen auf die Beine gestellt – also von einer Betroffenen für andere Betroffene. Das war mir von Anfang an total wichtig. Durch meine Erfahrungen in dieser gewaltvollen Beziehung habe ich erst richtig gesehen, wo in unserem Hilfesystem die Lücken sind. Am Ende sind es eben immer die Betroffenen, die darunter leiden. Ich glaube, ohne diese Erfahrung wäre myProtectify nie entstanden. Die Balance schaffe ich ziemlich gut mit meinem Team, denn wir sprechen immer miteinander, vor allem wenn uns Geschichten erreichen, die richtig unter die Haut gehen. Ich bin unglaublich dankbar, dass ich mein Team dafür habe. Viele sagen, dass man das nicht zu nah an sich heranlassen sollte, dass man vorsichtig sein sollte, aber das finde ich problematisch. Gerade bei diesem Thema möchte ich keine Distanz schaffen. Betroffene brauchen uns, sie brauchen Support, mentale Unterstützung und vor allem Lösungen, die ihnen wirklich helfen und keine professionelle Distanz.
Sogol, Gründerin von myProtectify, und ihr Team
Ronja Zimmermann, Ann Rheinheimer, Sogol Kordi und Benedikt Görges sind das Team hinter myProtectify. Foto: Armin Oehmke

Gab es ein Vorbild oder eine Situation, die dir Mut gemacht hat, diesen Weg öffentlich und unternehmerisch zu gehen?

Manchmal waren es gerade die schwierigen Situationen, die mich zum Nachdenken brachten – warum nichts getan wird und warum ich mit all dem so allein gelassen werde. Zum Beispiel, als das Frauenhaus voll war und ich nicht dorthin konnte, sondern einfach wieder nach Hause geschickt wurde. Niemand hat mir geholfen, ein anderes zu finden. Oder die erste Psychologin, die zu mir gesagt hat, mein Fall sei zu hart für sie. Oder die Beratungsstelle, bei der ich nur nach Möglichkeiten gefragt habe, wie ich Hilfe bekommen könnte und am Telefon einfach abgewimmelt wurde. Selbst das Amtsgericht, bei dem ich nachgefragt habe, wie man Prozesskostenhilfe beantragt, hat einfach aufgelegt. Ich könnte noch hundert andere Situationen aufzählen, die mir bis heute im Kopf herumgehen.

All diese Erfahrungen führten irgendwann dazu, dass ich einem Instagram-Account geschrieben habe. Dort wurde ein öffentlicher Aufruf gestartet und so habe ich nach einem Tag meine “Buddy” bekommen. Meine Buddy war eine Frau, die mir jeden Tag geschrieben hat: Wie es mir geht, wie es zuhause läuft. Mit ihr habe ich über WhatsApp meinen Fluchtplan geschmiedet. Es war ein unglaublich starkes Gefühl zu wissen, dass ich jederzeit zu meinem Handy greifen und ihr schreiben konnte. Sie hat mich nie verurteilt, sondern war einfach da – hat mich unterstützt, getragen und mir gezeigt, dass ich nicht alleine bin. Und ja, bis heute habe ich noch Kontakt zu ihr.

Was genau ist myProtectify – und wie unterstützt ihr konkret Frauen, die von häuslicher oder finanzieller Gewalt betroffen sind?

myProtectify ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Hamburg, die sich auf die digitale Unterstützung von Menschen spezialisiert, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Wir haben mit Maya einen kostenlosen und anonymen KI-Hilfe-Chat entwickelt, der Betroffene von Partnerschaftsgewalt rund um die Uhr und in der passenden Sprache dabei unterstützt, aus ihrer Gewaltbeziehung auszubrechen. Maya ist eine digitale, empathische Begleiterin, die über die verschiedenen Formen von Gewalt aufklärt, individuelle Fragen beantwortet, gemeinsam mit Betroffenen Checklisten und Pläne erstellt und passende Hilfsangebote vermittelt.

Viele trauen sich (noch) nicht, mit anderen Menschen über ihre Gewalterfahrungen zu sprechen, z.B. aus Scham oder Angst davor, dass ihnen nicht geglaubt wird. Maya ist eine leicht zugängliche Möglichkeit, sich Hilfe zu suchen. So kann sie jede:n im eigenen Tempo auf der Suche nach weiterführenden Hilfsangeboten unterstützen.

Betroffene können sich mit Maya über alle Formen von Gewalt informieren, um frühzeitig erste Anzeichen zu erkennen. Gerade bei finanzieller Gewalt kann es schwierig sein, sie sofort zu realisieren. Bei mir war das ein schleichender Prozess: Es fing an mit dem Satz ‚Lass uns ein gemeinsames Konto auf die Beine stellen, so können wir besser sparen.‘ Drei Monate später hieß es dann: ‚Du kannst ja jetzt dein altes Bankkonto schließen, brauchst du nicht mehr.‘ Genau das tat ich dann auch. Das waren alles erste Anzeichen von Kontrolle, die niemand richtig thematisiert. Genau hier müssen wir anfangen.

Wir haben vor kurzem die erste Version von Maya released. Langfristig möchten wir Maya als digitale Begleiterin etablieren, die Betroffene auch nach dem Verlassen der Gewaltbeziehung weiter unterstützt.

Ich selbst hatte damals keine Wohnung, keinen Job, kein Bankkonto, wusste nicht, wie ich an psychologische Hilfe komme und was in so einem Prozess auf mich zukommt. Es hat Monate gedauert, all das wieder aufzubauen. Genau da wollen wir mit Maya langfristig ansetzen – sie soll wie eine Begleiterin sein, die Betroffene Schritt für Schritt in ein selbstbestimmtes Leben unterstützt.

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Welche Lücke siehst du im bestehenden Hilfesystem, die myProtectify füllen möchte?

Als ich damals nach einem sicheren Ausweg gesucht habe, habe ich mit einer Online-Recherche angefangen. In diesem Moment war es das Einfachste für mich. Ich wollte mich nicht gegenüber fremden Menschen öffnen. Aber schnell bin ich auf veraltete und total unverständliche Informationen gestoßen. Einige Hilfsmöglichkeiten waren nicht sicher und es hat oft unfassbar lange gedauert, bis ich die Informationen gefunden habe, die ich brauchte.

Dazu kam: Es gab keine individuelle Hilfe, die wirklich rund um die Uhr erreichbar war. Und ein weiteres riesiges Problem sind Sprachbarrieren. In Deutschland sind offiziell 28 Sprachen registriert, aber viele Beratungsstellen hören, wenn man Glück hat, bei sieben oder acht Sprachen auf. Wer darüber hinaus Hilfe braucht, bleibt oft allein.

Wie sieht euer Geschäftsmodell aus – und wie stellt ihr sicher, dass eure Angebote auch für Frauen in prekären Situationen zugänglich bleiben?

Eine Sache ist uns von Anfang an klar gewesen: Betroffene zahlen nichts – und das soll auch so bleiben. Genau dafür treten wir ein und darauf bauen wir unser ganzes Modell auf.

Wir sind noch ein junges, gemeinnütziges Impact-Startup und suchen noch nach dem besten Geschäftsmodell für uns. Die Gemeinnützigkeits-Bubble ist nicht einfach. Oft fehlt es schlicht an Geld. Im Moment finanzieren wir uns über eine Förderung. Aktuell läuft außerdem unsere Spendenkampagne. Der Link für die Spendenkampagne ist auf unserer Webseite zu finden. Wir würden uns riesig über jede Spende freuen!

Außerdem bieten wir Workshops und Impulsvorträge an, um über häusliche Gewalt aufzuklären. Wir versuchen noch herauszufinden, welches Geschäftsmodell langfristig wirklich zu uns passt und zu unserer Mission beiträgt.

Viele Menschen denken bei häuslicher Gewalt zuerst an körperliche Gewalt – warum ist finanzielle Gewalt so unsichtbar und trotzdem so zerstörerisch?

Finanzielle Gewalt ist so unsichtbar, weil sie oft ganz schleichend anfängt. Am Anfang klingt es vielleicht sogar harmlos oder liebevoll. ‚Lass uns ein gemeinsames Konto machen, wir sparen dann besser.‘ Aber Schritt für Schritt verliert man die Kontrolle über sein eigenes Geld. Plötzlich hat man keinen Zugang mehr zu seinen Konten, kein eigenes Einkommen oder darf nicht arbeiten gehen. Finanzielle Gewalt kann aber z.B. auch bedeuten, dass der Täter oder die Täterin Schulden im Namen der Betroffenen macht.

Und genau das macht sie so zerstörerisch: Wenn man finanziell abhängig gemacht wird, ist der Weg raus aus der Gewalt viel schwerer. Ohne Wohnung, ohne eigenes Geld, ohne Job und vielleicht sogar mit Schulden fühlt man sich gefangen und muss ganz von vorne anfangen, sich ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Viele verstehen gar nicht, dass
finanzielle Gewalt genauso ein Machtinstrument ist wie körperliche Gewalt, nur viel stiller. Und genau deshalb müssen wir anfangen, darüber zu sprechen und vor allem müssen wir es viel sichtbarer machen.

Welche typischen Anzeichen für finanzielle Gewalt gibt es, auf die Betroffene oder auch deren Umfeld achten sollten?

Ein typisches Anzeichen kann sein, wenn Betroffene kein eigenes Geld besitzen oder keinen Zugriff auf eigenes Geld haben, also zum Beispiel kein eigenes Konto. Häufig wird ein festgelegtes Budget beispielsweise fürs Einkaufen festgelegt und hinterher wird kontrolliert, wofür das Geld ausgegeben wurde. Der Täter oder die Täterin kontrolliert und verwaltet also das Geld. Dazu kann auch gehören, dass Sozialleistungen oder Kindergeld abgefangen werden und den Betroffenen der Zugang zu gemeinsamen Ersparnissen verweigert wird. Ein weiterer Hinweis ist, wenn jemand gedrängt oder gezwungen wird, den Job aufzugeben und sich keinen neuen suchen oder anfangen darf. Ein klassisches Argument: ‘Ich verdiene genug.’ Wichtig ist, dass finanzielle Gewalt auch bedeuten kann, dass Schulden gemacht werden, ohne dass Betroffene davon wissen. Häufig erfahren sie erst nach der Trennung davon. Geld wird häufig auch als Bestrafung oder Druckmittel eingesetzt. Außerdem kann es dazu beitragen, den Partner oder die Partnerin zu isolieren, wenn beispielsweise das Geld für Fahrten, Telefon oder Internet verweigert wird.

Welche gesellschaftlichen oder politischen Veränderungen wären nötig, um Frauen besser vor finanzieller Kontrolle und Abhängigkeit zu schützen?

Wenn eine Frau keinen Zugang zu ihrem eigenen Geld hat, wenn jeder Euro kontrolliert wird, dann ist das keine „Beziehungssache“, sondern Gewalt. All diese Formen sind Gewalt und müssen sichtbar gemacht werden.

Dafür braucht es mehr Aufklärung in Schulen, in der Öffentlichkeit, in den Medien. Je klarer wir finanzielle Gewalt benennen, desto eher können Betroffene erkennen, was mit ihnen geschieht und desto weniger können Täter:innen ihr Verhalten verharmlosen.

Ein weiterer wichtiger Baustein ist die frühe Vermittlung von Finanzwissen, gerade für Mädchen und Frauen. Wer versteht, wie man mit Geld umgeht, Verträge prüft und finanzielle Risiken erkennt, kann nicht nur unabhängiger handeln, sondern auch finanzielle Gewalt schneller erkennen.

Finanzielle Gewalt muss auch rechtlich klar als Form häuslicher Gewalt anerkannt werden. Das bedeutet z.B. eine verlässliche Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen, einfach zugängliche Notfallhilfen und Schutz vor Schulden oder Verträgen, die ohne Zustimmung im Namen der Betroffenen abgeschlossen werden.

Und es braucht gesellschaftliche Veränderungen: gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, Investitionen in Kinderbetreuung und Pflege sowie einen sicheren Zugang zu Wohnraum und Arbeit. Das kann Betroffenen besonders nach einer Trennung den Weg in ein selbstbestimmtes Leben erleichtern.

Wo siehst du myProtectify in den nächsten fünf Jahren – und welche Vision hast du für eine Gesellschaft, in der finanzielle Gewalt sichtbar gemacht und wirksam bekämpft wird?

In meiner Wunschvorstellung gibt es keine Gewalt auf der Welt und Frauen werden besser geschützt. Ich glaube, den ersten Punkt schaffen wir nicht so ganz, aber den zweiten Punkt schon! In fünf Jahren sehe ich myProtectify als eine starke, unabhängige Organisation im Kampf gegen jede Form von Gewalt. Unser Hilfe-Chat Maya soll Betroffenen einen sicheren Raum bieten und immer und überall zugänglich sein. Nicht nur als kurzfristige Hilfe, sondern als langfristige Begleiterin, damit Betroffene Schritt für Schritt wieder in ein selbstbestimmtes Leben zurückfinden können. Ich möchte mit myProtectify aktiv zur Aufklärung über Gewalt beitragen durch verständliche Informationen, einfache Zugänge und die konsequente Benennung aller Gewaltformen. Unsere Vision ist eine Gesellschaft, in der finanzielle und psychische Gewalt genauso ernst genommen werden wie körperliche Gewalt. Gleichzeitig möchte ich, dass myProtectify Brücken baut zwischen Betroffenen, Beratungsstellen, Frauenhäuser, Politik und Gesellschaft. Denn nur wenn wir alle Ebenen zusammenbringen, kann wirkliche Veränderung entstehen, die wir doch so dringend im Kampf gegen häusliche Gewalt brauchen.

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© Marcus Witte

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